Rezension: Sebestyén, György – „Thennberg“

Roman
Verlag Braumüller Literaturverlag, 2010
ISBN: 978-3-99200-009-8
Bezug: Buchhandel; Preis: Euro 19,80

1969 war dieses Buch schon einmal erschienen. In diesem Jahr, dem 80. Geburtstag und 20. Todesjahr des früh verstorbenen Dichters wird die Novelle zu Recht wieder neu aufgelegt.
Sebestyén stellt seiner Geschichte einen Abschnitt aus dem Prediger Salomon voran: Weder Sonne noch Erde nehmen Notiz von den wechselnden Geschlechtern. Es gibt nichts Neues, alles ist schon einmal da gewesen und wiederholt sich unaufhörlich. Das, und ein Wort von Hölderlin, dass nur das wichtig ist, was wir suchen – und nicht, was wir sind, sind der Schlüssel zur Geschichte um Richard Kranz, der 1945 nach fünfjährigem Aufenthalt in verschiedenen KZs (Kazets) von den Russen befreit wird. Nur wenige haben mit ihm überlebt.
Der Autor erzählt mit zwei Stimmen: Eine Stimme gehört dem Bauunternehmer Moravec, den eine anonyme Anzeige bezichtigt, Jahre vorher, 1945, seine Stieftochter ermordet zu haben. Die andere Stimme gehört dem Erzähler, der den tatsächlichen Hergang, Umstände und Beweggründe schildert.
Sebestyén verwebt viele Einzelerzählungen aus Gegenwart und Vergangenheit der Dörfler und der jüdischen Stadtfamilie zu einem dichten Geflecht:
Geht es hier um Halbwahrheiten und Verleumdungen, die den Juden aus der Stadt, die angeblich nur an ihren Reichtum denken können, angedichtet werden? Geht es darum, dass ein junger Mann ein paar grauenhafte Jahre einfach ausradieren und an sorglose Jugendzeiten anknüpfen kann? Geht es darum, dass Juden, die sich assimilieren und nicht auffallen wollen, eine zu glatte, zu feine Oberfläche präsentieren und daher den Dörflern erst recht suspekt werden? Geht es um Liebe – um sexuelle Sehnsucht, die als Liebe deklariert wird? Geht es darum, dass nach einer Diktatur wieder das Individuum im Vordergrund steht und für sich selbst entscheiden kann? Geht es einfach ums Überleben, solange man noch einen Fuß vor den anderen setzen kann?
Alle diese Überlegungen zusammen ergeben die Geschichte von und um Thennberg.
Thennberg, ein fiktives Dorf, gut erreichbar von Wien, in dem Jeder Jeden kennt. Kaum etwas bleibt verborgen, vieles wird gemutmaßt. Thennberg, einerseits ein Klatschnest, andererseits ein idyllisches Dorf in schöner Umgebung, friedlich, ruhig, ein Ort zum Ausruhen, auch für den jungen Gymnasiasten Richard Kranz, der einige Jahre dort seine Sommerferien verbrachte. Dort fühlte er sich sicher und geborgen, wäre gerne einer von den Dorfjungen gewesen und ahnte nicht, dass hinter der freundlichen Oberfläche ihm und seiner Familie die Augen und der Tratsch der Dörfler überallhin folgten.
Nun kehrt er, der getaufte Jude, 1945, in den Ort einer scheinbar sorglosen Zeit zurück. Er hat in sechs Jahren mehrere Lager durchlebtt und kommt nach der Befreiung durch die Russen aus einem in der Nähe gelegenen Kazet. Der einstmals gepflegte Junge, rundlich, mit guten Manieren, der sich oft absonderte und gerne las, ist nun zweiundzwanzig Jahre alt, abgerissen, ein Schatten seiner selbst. Er will die grausigen Jahre ungeschehen machen, will an seine Jugendtage anknüpfen. Wiederholt fragt er sich nicht nur, was er eigentlich in einem Kazet verloren hatte, er fragt sich auch, ob er derjenige ist, der dies alles erlebt oder ob er träumt.
Damals, in jenem anderen Leben hatte er ein kurzes Verhältnis mit einer verheirateten Frau, auf die fast alle Männer scharf waren. Er glaubt sie geliebt zu haben, meint, niemand, nicht einmal sie selbst habe davon gewusst. Dabei klatschte das ganze Dorf darüber.
Der Bauunternehmer Moravec sitzt Jahre später dem Untersuchungsrichter Zahidil gegenüber und gibt die Stimmung des Dorfes wieder. Das Misstrauen, das der feinen Gesellschaft aus Wien, welche die Sommermonate im Schloss verbrachte, entgegenschlug. Die „Gewissheiten“ über die reichen degenerierten Juden, der Vater selten zu sehen, die Mutter wahrscheinlich lesbisch, da sie immer wieder eine Dame aus der Schweiz empfing (ihre Schwester!) der Sohn, dem das Dorf übel nahm, dass er sonntags zur Messe ging; denn obwohl getauft, bleibt er dennoch Jude, schien schwul zu sein. Man sah ihn nämlich häufig mit Erich, dem Sohn des Richters Mohaupt – und dafür konnte es kaum einen anderen Grund geben. Gleichzeitig glaubte man aber auch zu wissen, dass gerade dieser Richard mit seinen 14 Jahren ein Verhältnis mit der schönen Frau Helene Wallach hatte. Als Helenes Mann fiel – da war Richard schon längst im KZ, heiratete sie der Bauunternehmer Moravec. Ihre Tochter adoptierte er. Als die Frau, von der er sagt, er habe sie wirklich geliebt, 1943 starb, kümmerte er sich nicht nur liebevoll um seine damals dreizehnjährige Stieftochter, er nahm sie auch zu sich ins Bett. Das ahnt natürlich mancher im Dorf. So etwas kann nicht verborgen bleiben.
Moravec nimmt den jungen Kazetler, den er in der Nähe des Dorfes zufällig trifft, in sein Haus auf; sozusagen als Personenschutz; denn in dieser Zeit kann ein überlebender Jude nur von Vorteil sein, gegenüber Russen, die durch die Gegend ziehen, gegenüber Behörden. Die Gegend ist unsicher, schon mehrmals waren Tote im Wald gefunden worden. Wehleidig und beschönigend stellt er später seine persönliche Trauer um Frau und Stieftochter in den Vordergrund. Scheinheilig versucht er von sich abzulenken, in dem er den Gemeinderat Ernst Mohaupt, den Jugendfreund Richards auf eine anonyme Anzeige aufmerksam macht, die ihn des Mordes an seiner Stieftochter beschuldigt.
Richard taumelt fiebrig in die Geschichte, erinnert sich der Befreiung, an Brot, an Schmalz und Schnaps, woran viele Häftlinge dann noch starben. Bruchstücke und Einzelepisoden tauchen in seinem Gedächtnis auf, die Reihenfolge aller Ereignisse ist ihm entfallen; ähnlich wie in einem Fiebertraum, wo Geschichten aufleuchten und wieder versinken, scheinbar ohne inneren Zusammenhang, losgelöst von aller Chronologie. Verbissen spielt er Richard Kranz. Das hat er gelernt, das hatte seine ermordete Familie auch getan: Hat die assimilierten Juden gespielt, die feine Gesellschaft, unnahbar, glatt, wie mit Lack überzogen – obwohl jeder doch gern ein anderer gewesen wäre. Alle hatten gewollt, dass man sie liebte und anerkannte.
Die Erinnerungen an eine Liebesstunde mit Helene Wallach vermischen sich mit den Erzählungen der Männer im KZ. Traumfantasien über das, was hätte sein können.
In Moravec’ Haus lernt der junge Mann Lilo, die Tochter seiner einstigen Geliebten kennen und beschließt ihr den Hof zu machen. Er will lieben, er will geliebt werden. Er will wieder ein normaler Mensch sein, möchte anknüpfen an früher, doch diese Entscheidung zur Liebe hin, wird Lilo den Tod bringen. Dass dieses Spiel vergeblich bleiben wird, weiß er selbst. „Wozu das alles?“, fragt er sich immer wieder.
Als er arglos und unbedarft Moravec von seiner Liebe zu Lilo erzählt, beschließt er damit ihr Todesurteil. Lange fällt auf den Bauunternehmer, der Angst vor der Aufdeckung der Schande hatte, kein Argwohn, da Lilo mit einer russischen Armeepistole erschossen wurde. Nur Richard ist sicher, dass er der Mörder sein muss. Doch kann man im Hause eines Mörders von Mord sprechen? Katharina, die Ehefrau seines Jugendfreundes Erich, sie kennt Lilos und Moravec’ Geheimnis. Von ihr kommt wohl auch Jahre später die Anzeige, als nämlich der Bauunternehmer das Schloss, das 1939 noch Richards Vater gehört hatte, kauft. Sie fragt ihren Mann, den spät aus dem Krieg heimgekehrten Apotheker Erich Mohaupt: „Hast du gehört? Die Herren Mörder kaufen sich Schlösser und Gott bestraft sie nicht [….]“.
Markus Löw endlich, ein Mitgefangener aus dem Kazet, nimmt Richard mit. Er beweist diesem, dass er gar nichts weiß, nichts wissen kann, dass es gut für ihn ist, nichts zu wissen. Schicksalsergeben sagt er: “Komm, wenn man die Füße bewegen kann, dann geht man eben, und wozu willst du fragen, warum.“

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